Rekord bei Trennungen


Stuttgart

Bis dass der Richter die Eheleute scheidet

Im vergangenen Jahr sind in Stuttgart so viele Ehen wie nie zuvor geschieden worden. Gleichzeitig ist die Zahl der Heiratswilligen auf einen neuen Tiefstand gesunken.

Von Erik Raidt

Wer heutzutage noch den Mut aufbringt, seinem Partner das Jawort zu geben, wird regelrecht belagert: Wenn Deutschlands größte Hochzeitsmesse "Trau Dich" in Stuttgart Station macht, sind alle vor Ort: Floristen, Juweliere, Entertainer, Brautausstatter, Konditoren, Hotels, Restaurants, Reiseanbieter - und Rechtsanwälte. Ausgerechnet die Juristen profitieren immer häufiger von den Hochzeiten. Anfangs, weil sie beim Aufsetzen eines Ehevertrages helfen. Und nach ein paar Jahren verdienen sie noch mehr, wenn aus Liebenden Streithähne geworden sind. Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Scheidungen in Stuttgart gegenüber 2003 von 1311 auf den Rekordwert von 1423 Fällen.

Vor 15 Jahren verzeichnete das Statistische Landesamt für Stuttgart noch rund dreimal so viele Eheschließungen (3333) wie Scheidungen (1052) - mittlerweile nähern sich die Werte einander an. Nicht nur der Tod trennt die Eheleute, immer öfter ist es der Scheidungsrichter. Beate Staatz vom Deutschen Kinderschutzbund in Stuttgart kennt zahllose Geschichten von gescheiterten Beziehungen. Und im Gegensatz zu früher setzt heute meist die Frau den Schlusspunkt unter eine gescheiterte Partnerschaft und reicht die Scheidung ein. "Für Frauen gibt es mehr Möglichkeiten, ein selbstständiges Leben zu führen." Eine bessere Berufsausbildung macht sie finanziell unabhängiger.

Immer wieder erfährt Beate Staatz, wie die gleichen Konflikte zur Trennung führen: "Kritisch wird es oft, wenn die Frau nach einer Pause wieder ins Berufsleben einsteigt und der Mann sich nicht mehr in der Rolle des alleinigen Versorgers sieht." Auch wenn sich einer der beiden Ehepartner weiterentwickelt und sich von dem Bild entfernt, dass sich der andere ursprünglich von ihm gemacht hat, kommt es oft zu Auseinandersetzungen. Drittens belasten in wirtschaftlich schwierigen

Zeiten auch finanzielle Probleme die Beziehungen. "Wenn jemand seinen Job verliert, stellt das die Partnerschaft oftmals in Frage", sagt Beate Staatz. Erst geht der Arbeitsplatz, dann das Selbstwertgefühl verloren. Dann geben viele bei familiären Problemen leichter auf.

Petra Heusel vom Interessenverband Unterhalt und Familienrecht (Isuv) erlebt täglich, wie stark Beziehungen durch die Anforderungen der Arbeitswelt belastet werden. "Die geforderte berufliche Flexibilität lässt sich oft mit einem Familienleben kaum mehr in Einklang bringen." Vielen Arbeitgebern schwebe das Idealbild vom jederzeit verfügbaren Angestellten vor. Gleichzeitig forderten die Schulen ehrenamtliches Engagement der Eltern ein. Wenn dann plötzlich der Nachwuchs krank wird, gerät das Management von Kind und Karriere ins Schlingern. Vor diesem Hintergrund gehen in Stuttgart - wie im gesamten Land - immer weniger Menschen das "Risiko Ehe" und das "Risiko Nachwuchs" ein. Im vergangenen Jahr sank die Zahl der Eheschließungen auf 2487 - ein Rückgang um ein Drittel gegenüber 1990.

Für diejenigen, die den Bund fürs Leben dennoch wagten und scheiterten, bieten immer mehr Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen ihre Dienste an. Der Kinderschutzbund startet am 9. November mit einem neuen Angebot, das sich an Trennungs- und Scheidungskinder in Stuttgart wendet. Streiten sich die Eltern, leiden oft die Kinder am meisten. "Viele ziehen sich zurück, werden aggressiv, und ihre Leistungen in der Schule werden schlechter", sagt Beate Staatz. Der Kinderschutzbund will Kindern und Erwachsenen Wege aus der Krise aufzeigen. "Für die meisten ist es in so einer Lage eine Hilfe, wenn ein neutraler Dritter mit am Tisch sitzt, der bei Unterhalt und Sorgerecht berät", argumentiert Staatz. Wichtig sei, dass die Expartner nicht nur über die Anwälte miteinander redeten. Dann biete eine Trennung eine Chance. "Scheidungen können sich auch positiv auswirken, gerade für die Kinder."

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung vom 03.11.2005

Quelle: Stuttgarter Zeitung online


counter